VII
–––––––––
Er begriff nicht, daß das erst drei Wochen her sein sollte: es erschien ihm länger als ein Jahr. Die Nonne schien ihn nicht mehr zu erkennen, sie selbst war nur wenig verändert: ihr flei- schiger Arm mit der Kinderhand schien etwas magerer und ihr breites törichtes Gesicht trauriger geworden zu sein, er hatte sie gleich wiedererkannt. Sie stand über einen großen dampfenden Kessel gebeugt und teilte Suppe aus. Ein paar Mädchen standen Schlange vor der dampfenden Öffnung, und welches an der Reihe war, hielt ihr die offene Schnauze ihrer Blechkanne ent- gegen; sie selbst war vom Dampf der Suppe eingehüllt und zähl- te kellenweise die heiße Flüssigkeit ein, die nach Rüben und einer Spur verdunsteten Fettes roch. Die kleine Kolonne in blauweißgestreiften Schürzen nahm langsam ab, und er hörte schon, daß der Löffel unten auf dem Boden des Kessels herum- kratzte, und sah, daß die Dampfschwaden geringer wurden, sie zogen an ihm vorbei durch die offene Tür hinaus und hafteten an seinem Gesicht wie ein feiner heißer Schweiß, der sich langsam abkühlte, ein sanfter Sprühregen, der nach Spülwasser zu rie- chen schien; die Mädchen verließen das Küchenhäuschen durch den Spalt einer riesigen Schiebtür, die nur angelehnt war an die alte Türöffnung: die Schienen oben waren verbogen: manchmal kam ein Windstoß durch diesen Spalt und trieb die Wasserdämp- fe zusammen, riß sie durch ein offenes Fenster hinaus, und für einen Augenblick war die Nonne deutlich sichtbar und vor ihr die mageren Nacken der beiden Mädchen, die noch warteten –
Hinter ihm fuhr ein Wagen auf den Hof, und eine große Fuhre Steckrüben wurde auf den Boden gerumpelt; die Nonne verließ eilig ihren Platz, pflanzte sich an der Tür auf und rief zornig:
»Gebt doch acht, es gehen so viele kaputt, schließlich sind sie doch für Menschen… zum Essen…«
Sie stand sehr nahe bei ihm, er sah ihr Gesicht vor Empörung zittern und hörte hinter sich die Fuhrleute lachen; er wandte sich
um, einer schaufelte mit einer Mistgabel den Rest der Rüben von
der Schräge des Wagens, und der Fahrer ließ von der Schwester einen Zettel unterschreiben: er war dick, blaß und schien es eilig zu haben. Die Nonne gab dem Fahrer den unterschriebenen Zettel zurück, sah ihm kopfschüttelnd nach und blickte Hans an; sie hatte immer noch die Kelle in der Hand, von der die dünne heiße Suppe heruntertropfte. »Was wollen Sie?« fragte sie.
»Etwas zu essen…«
»Unmöglich«, sagte sie, indem sie wegging, »es ist alles genau abgemessen, unmöglich…«
Aber er blieb stehen und sah zu, wie sie die beiden letzten Mädchen abfertigte.
Er fror, am Tage vorher hatte es geschneit, einen nassen, wi- derwärtigen Maischnee, die Pfützen standen noch auf dem Hof,
und in manchen Ecken an der Mauer, an sehr schattigen Stellen
zwischen den Schutthalden und der rissigen Mauer, sah er Klumpen von dreckigem Schnee liegen.
Die Schwester winkte ihm jetzt zu, indem sie den Löffel unge- schickt über der Öffnung des Kessels schwenkte, er ging schnell auf sie zu…
Sie sagte flüsternd: »Sagen Sie niemand, daß ich Ihnen etwas
zu essen gegeben habe – sonst habe ich morgen die halbe Stadt hier stehen; los«, rief sie heftiger, »kommen Sie…«
Sie hatte eine halbe Kelle voll aus dem Kessel herausgekratzt und in einen Blechnapf geschüttet. »Schnell«, rief sie, und er
sah, daß sie an die Tür lief, um aufzupassen…
Er trank die Suppe schnell hinunter, sie war heiß und dünn, schmeckte aber herrlich; vor allem war sie heiß; er spürte, daß ihm die Tränen ins Gesicht stiegen, ohne daß er es verhindern konnte, sie liefen einfach los, und er hatte nicht die Hände frei, um sie aufzuhalten, er merkte, daß sie sich kühl in den Falten seines Gesichts fingen und schräg zum Mund liefen, wo er ihren salzigen Geschmack spürte…
Er stellte den Napf auf den Rand des Kessels und ging zur Tür. Im Gesicht der Schwester sah er etwas, das kein Mitleid war, es schien Schmerz zu sein, eine Art abwesender Teilnahme und
kindlicher Zärtlichkeit. »Haben Sie sehr großen Hunger?« sagte
sie. Er nickte. »Wirklich?« Er nickte nochmals heftiger und blickte gespannt auf diesen schönen geschwungenen Mund in- mitten ihres blassen und fetten Gesichts. »Augenblick…«
Sie ging zum Tisch, der in der Küchenbaracke stand, und einen Augenblick lang, als er sah, daß sie eine Schublade öffnete, hoffte er, sie würde ihm Brot geben, aber er sah nur daß sie ei- nen Zettel herauszog, den sie sorgfältig glättete und ihm über- reichte. Er las ›Gutschein für ein Brot, abzuholen bei Gompertz, Rubensstraße 8‹.
»Danke«, sagte er leise, »vielen Dank, kann ich jetzt noch hin- gehen?«
»Nein«, sagte sie, »es ist zu spät, Sie kommen vor der Sperr- stunde nicht mehr hin, laufen Sie zum Bunker, und morgen
früh…«
»Ja«, sagte er… »Danke, vielen Dank…«